New Marketing

 
 

Die Interfusion, die hohe Schule von Beziehungen zwischen Menschen und Wirtschaft, heißt: vollständige Integration, Verschmelzung und wechselseitiges ineinander Aufgehen beider Partner. Gerd Gerken, seinerzeit noch als „Spinner“ nicht ganz ernst genommen, genießt durch Marketing im Web 2.0 und Web 3.0 höchste Aktualität.

Marketing zielt auf den Bedarf ab, Interfusion auf Beziehungen. Insofern war die Interfusion etwas ganz neues und operiert auf einer höheren Ebene als das Marketing.

Im alten Marketing gab es die Positionierung, die Penetration, die Zielgruppen, den Konsum und den Konsumenten als geistlose Maschine. Im neuen Marketing arbeitet man mit Emotionen, mit Leadership, mit Markenwelten, mit Markenaura und Mythen.

Der Mensch, also der frühere Konsument, wird zu einem selbstreferentiellen System. Hier verschmilzt Marketing endgültig mit Neuropsychologie. Verschiedene Bewusstseinsebenen verweisen aufeinander. Der Traum ist eine Ebene, die Erinnerung an den Traum die andere.

Das alte Marketing hatte gegenüber seinen Konsumenten eine Machohaltung im Sender- Empfängermodell: „Hier ist die Marke, sie sendet Botschaften aus, du bist Empfänger und wir wollen, dass du dich so und so verhältst.“ Also ein Modell, der Manipulation.

Durch Interfusion entstehen Beziehungen, Produkte werden gemeinsam weiterentwickelt. Es wird erinnert, bewertet und interpretiert, um Ursprungserlebnisse zu kultivieren. Der Mini, der Fiat 500 und auch die neue Fashionseite von Adidas „Adidashion“ sind treffende Beispiel hierfür.

In Produkt- und Markenwelten werden so etwas wie erotische Beziehungen zwischen Hersteller und Menschen aufgebaut. Es entstehen ganz andere Formen der Akzeptanz und fast Liebesverhältnisse, die in Communities immer wieder neu vitalisiert werden.

Der Mensch, der frühere Konsument als Sammler? Das Produkt, wie in der Kunst, ein Objekt der Begierde?

Sicherlich möglich und wahr bei Marken wie Prada, Nike, Jil Sander und Ferrari. Gibt es das auch in Märkten von Halbfabrikaten oder Investitionsgütern? Ja, gibt es! Der Hersteller von Mess- und Regeltechnikgeräten Festo ist dafür ein gutes Beispiel.

Nach Wilfried Leven vereinigen Marken eine große Anzahl „... von monetären, funktionalen und emotionalen Werten, die die Entscheidung des Konsumenten branchenabhängig unterschiedlich stark beeinflussen.“

Aus verhaltenstheoretischer Sicht sind Marken Orientierungshilfen für Menschen. Menschen können Produkte so schneller identifizieren; damit wird auch das „Bequemlichkeitsstreben“ des Gehirns beantwortet. Aus psychologischer Sicht ist die Marke ein Vertrauensträger, der aufgrund von Bekanntheit, Kompetenz und Identität, gute und vertraute Gefühle beim Menschen auslöst. Marken lösen Emotionen aus, die über eine Reihe von Wertvorstellungen zu Selbstkonzeptionen, zu eigenen Lebensentwürfen, verhelfen.

 

Was ist neu, was wird sich zukünftig noch viel radikaler ändern?
In der heutigen und zukünftigen Marketingkommunikation wird es keine Trennung mehr zwischen so genannten Konsumenten und Marke geben. Eine Marke lebt im Interfusionsmarketing durch ihre Kunden.

Cultural-Hacking, Story-Telling und Networking sind drei wichtige Säulen im Interfusionsmarketing. Mit diesen Instrumenten, insbesondere im Web und ohne langwierige Marktforschungsprozesse, kann ich die Menschen, die ich erreichen will, kennenlernen und eine Art geistige Beziehung zu ihnen aufbauen.

Diese Beziehungen laufen in ihrer Entstehung und in ihrem Aufbau über Geschichten und Mythen. Angefangen über den VW-Käfer, über die Levi`s Jeans bis heute zum Beetle, dem Mini (is it love?), dem Fiat 500 (die Rückkehr der Jugend) werden Geschichten erzählt und Mythen geboren.

Story-Telling nutzt die Gefühle, die Marken auslösen. Im Weltbild von Web 2.0 und 3.0 wird davon ausgegangen, dass es keine realen Wirklichkeiten gibt, sondern nur erfundene, also Wirklichkeiten, die nicht mehr objektiv sind, soweit es das als philosophische Betrachtungsweise jemals gegeben hat! Selbstreferentielle, spirituelle und geistige Ebenen in und aus den Entwicklungen von Marken.

Marken mit Mythen und Legenden schaffen Vertrauen und sind das Tor zu Neuem. Sie müssen sich weiterentwickeln und immer wieder in neuen Kontexten erzählt werden, damit der Erzählfluss nicht versiegt!

Mythen beeinflussen und konditionieren Menschen schon seit Urzeiten sehr gut! Angefangen von bibel-religiösen Geschichten über Märchen bis hin zur heutigen Gute-Nacht-Geschichte.

Mit Geschichten wurden schon in der Vergangenheit Erfahrungen übermittelt, Glauben etabliert und gefestigt. Die Legendenbildung einer Marke trägt zu ihrem Erfolg bei und ist das „Immunsystem gegen die Langeweile“.

Das Gehirn arbeitet so, dass neue neuronale Muster und Bahnungen entstehen. Es ist beim Hören und Lesen umfassend aktiv und fördert nicht nur analytische Denkstrukturen im expliziten System, sondern die viel wichtigeren Strukturen im impliziten System, der Intuitionen und Gefühle!

Die Glaubwürdigkeit von Marken entsteht auch aus Tradition wie zum Beispiel Qualität bei Levi´s, Sicherheit bei Ikea, Komfort bei Mercedes, Sex bei Dolce & Gabbana und Erfolg bei Rolex.

Wenn diese Geschichten weitererzählt werden, entwickeln sie eigene Dynamiken. Konsumenten sind heute die Gestalter der Marken und bilden mit den Marken und ihren Herstellern eine Gemeinschaft; die so genannten Web-Communities!

Das Internet ist zu einem Marktplatz für Geschichten geworden, in dem Millionen Menschen jeden Tag ihre Erfahrungen austauschen oder ihr Wissen vermehren. Story-Telling ist die Möglichkeit, Anreize zu bieten in Richtung neuer Wissensaufnahme, Denkweisen und Kreativität! Es spricht die Erfindungskraft und die Phantasie im Menschen an. Die kollektive Intelligenz wurde damit reichhaltiger und facettenreicher durch Schwarmintelligenz! Früher galt die Masse als dumm!


Cultural-Hacking und Networking
Die fortschreitende Individualisierung und Web 2.0 haben es möglich gemacht, dass aus ursprünglich treuen, braven Kunden „unmanageable Consumer“ geworden sind, die sich über Regelwerke hinwegsetzen und noch viel besser oder schlimmer, je nach Betrachtung, eigene Regeln erfinden. Unternehmen machen die erstaunlichsten Erfahrungen, zum Beispiel, dass die Konsumenten die Produkte ganz anders nutzen, als es in der Gebrauchsanweisung steht.

Die Auseinandersetzung ist manchmal bissig bis satirisch. Zum Beispiel Coca Cola und Menthos, die Brause als „explodierendes Konstrukt“.

Die Umdeutung oder Neuerfindung eines Produktes ist die Antwort der Menschen auf die teilweise Einfallslosigkeit der Hersteller und Anbieter. Kreativität und auch „Basteln“ wird zum Grundmuster der Identitätsbildung. Muster aus der Kindheit werden genutzt, umgebaut und in den eigenen vier Wänden galerieähnlich inszeniert, wie zum Beispiel das Elektronik-Toy Furby von Tiger Electronics, ein Fabelwesen, das fast alle Altersklassen ins Herz traf und mit großer Beliebtheit zu Hause inszeniert wurde. Baukastenspielzeuge wie Lego werden Akribie verändert und mit Software-updates illegal getunt.

Die Menschen tauschen sich aus über ihre Daten und Softwareentwicklungen in Netzwerken. Es gibt Blogs und Foren, der Konsument wurde hier zum so genannten Prosumenten, das heißt, er entwickelt und vertreibt seine Produkte selbst. Der Prosument manifestiert die Verschmelzung zwischen Verbraucher und Anbieter.

Unternehmen nutzen diese Communities schon lange für ihre Produktentwicklung. Das fängt oben bei Louis Vuitton an und endet bei Staples. Es entstehen immer wieder neue Netzwerke. Anbieter lernen durch diese Szenen- und Netzwerke die jeweiligen Sprachen der Communities und damit das Alphabet der Szenen.

Hacking ist von der Semantik her die Bezeichnung einer journalistischen Arbeit mit ungewöhnlichen Mitteln. Also ursprünglich keine Leute, die schaden anrichten. Hacker sind heute teilweise eine Art Künstler, die aus einer Kultur der Zweckentfremdung Neues entwickeln bzw. Decken zu neuen Innovationsebenen durchstoßen. Man kann es auch so sehen: Ein Hacker versucht Entferntes zusammen zu bringen und vorher nicht gekannte Zusammenhänge logisch zu machen.

Hacking ist damit eine Form der Analyse und Exploration, auch der Manipulation, die nicht nur die Funktionsweise eines bestimmten Systems lernt, sondern auch entdeckt, wie man seine eigenen Instrumente über gegebene Regeln und Limitierungen hinaus einsetzen kann. Hacker kennen sich in ihren Materien gut aus und schaffen es, spielerisch mit Tools umzugehen und Funktionen zweckzuentfremden.

Der Hacker „der guten Art“ verbindet analytisch-systematische Praxis mit der kreativ-spielerischen Arbeitsweise eines Künstlers. Mit Cultural-hacking können im Marketing Grenzen und Potenziale von Kampagnen, Produktkonzepten, Markenführung und strategische Leitlinien überdacht, ausgereizt und neu definiert werden.

Im Web 2.0 sind Cultural-Hacker von Marken eine wesentliche Komponente bei der Bildung von Communities. Kunden oder Menschen können bei diesen Hackern andocken!

Beispiele für Cultural-hacking: „Chicks on speed“ und "Ora Ito"

Diese Gruppe besteht aus den drei Frauen Kiki Moorse, Melissa Logan und Alex Murray-Leslie. Angefangen haben sie 1997 als fiktive Band an der Münchner Kunstakademie.

Das Konzept ist die Zusammenstellung aus paradoxen Elementen als Stil- und Arbeitsprinzip! Ständige subversive Neuinterpretation mit mehr oder minder stark durchströmten Avantgarde-attitüden, zeichnen diese Gruppe aus.

Diese paradoxen Elemente und Arbeitsergebnisse sind auf der Homepage der Gruppe gut sichtbar. Die kreativen „Montage- und Basteleigenschaften“ dieser Band zeigen sich in unzähligen Mode-entwürfen aus eigener Fabrikation. Es gibt Co-Produktionen mit hochkarätigen Designern. Performances finden auf Konzerten, Festivals oder in Undergroundclubs statt. Im Mittelpunkt der Shows steht das Ziel den divergent daherkommenden Namen „Chicks on speed“ nachhaltig zu thematisieren.

www.chicksonspeed.com zeigt, was die Gruppe heute ist: ein Gesamtkunstwerk, das Elemente der Musik, Kunst, Mode und Grafik Design vermischt mit dem Ziel Dinge an ihre Grenzen zu treiben und einen Schritt weiter zu gehen. Adieu Schubladendenken: Schrill, energiebeladen, fast reizüberflutend brechen sie Regeln und stellen Expertenautorität in Frage.

Die Publikumsauftritte wirken desorientiert, die Band hat zum Beispiel Turnschuhe von Adidas modifiziert und als Designobjekt unter dem Namen Modifidas in limitierter Auflage angeboten. Chicks on speed arbeiten hier wie Künstler, die aus einem Serienprodukt durch neue Funktionszusammenhänge etwas neues machen.

Durch ihre subversive Vorgehensweise aufmerksam geworden, arbeiten zum Beispiel auch Designer wie Karl Lagerfeld mit dieser Gruppe. Es entstand der Neuentwurf einer Chanel Laptop-Tasche, die dann unter dem Namen Chixel eingeführt wurde. Textilcollagen der Gruppe werden auf Titeln von Magazinen wie The Face abgedruckt, modifiziert findet man sie in Kollektionen von Dolce & Gabbana wieder.

Die Gruppe zeigt immer wieder wie horizonterweiternd es ist, mit begrenzten Mitteln gesellschaftliche Konventionen und eingefahrene Betrachtungsweisen zu brechen.

Es geht um Entgrenzungs- und Entfesselungskonzepte wie zum Beispiel bei Ora Ito.
Ora Ito ist ein erfolgreicher Designer aus Frankreich, der mit 31 Jahren bereits für eine Vielzahl von international erfolgreich agierenden Markenlabels arbeitet. Auf seiner Kundenliste stehen Namen wie Joop, Adidas, Artemide, Renault um nur einige Beispiele zu nennen.

Seine Erfolgsgeschichte manifestiert eindrucksvoll: vom Brand-Hacker zum Shooting-Star der internationalen Designszene mit mittlerweile eigenem Markenwert.

Ohne Auftrag und Wissen von Unternehmen entwickelte Ora Ito, nach abgebrochenem Studium, fiktive Produkte für Luxuslabels und stellte diese auf seiner Seite www.ora-ito.com. 1999 entwickelte er, zunächst nur am Computer, „Back up Vuitton“, eine Art Rucksacktasche für das Luxuslabel Louis Vuitton. Mit dem Abdruck einer fiktiven Anzeige in der französischen Modezeitschrift „Jalouse“ sollen über 2000 Anfragen bei Louis Vuitton eingegangen sein – es folgten Aufträge statt Rechtsstreitigkeiten wegen Markenrechtsverletzung.

Was mit kreativer Markenpiraterie anfing scheint genau das getroffen zu haben, was viele Verbraucher bei ihren Marken vermisst zu scheinen haben, den kreativ-satirischen Umgang mit dem eigenen Produkten und der eigenen Identität. Seine ironischen Produktkreationen mit übertriebenem Enblembezug sorgten für Desorientierung einerseits und lieferten das Substrat für die Marke andererseits.


Was bedeutet dies in Bezug auf Neuromarketing?
In Zeiten von Web 2.0 und 3.0 gibt es viele Ora Itos und Chicks – diese eröffnen dem Marketing die Chance ihre so genannten Konsumenten zu verstehen, seine Muster zu erkennen und sie im positiven Sinne für die eigene Markenentwicklung und –führung einzusetzten.

Das implizite System, der Autopilot, ist grundlegend sozial. Die Ansprache und Aktivierung des Autopiloten gelingt nur dann, wenn wir das soziale System der Verbrauchercommunity, der so genannten Herde und ihre Beziehungs-, Sinn- und Stilmuster verstehen.

In dem Erkennen des Autopiloten und den damit einhergehenden Empfindungs- und Reaktionsmustern können die Unternehmen genau das entwickeln und geben, was die Nutzer eigentlich wollen.

Abseits des alten Sender-Empfänger-Modells werden erfolgreiche Produkte im Zusammenspiel oder als Reaktion mit den Verbrauchern entwickelt. Verschmelzung und wechselseitiges ineinander Aufgehen: es gibt keine Grenze mehr zwischen den Konsumenten und der Marke. Damit wird Marketing auch viel demokratischer.

Was gab es nach dem alten Marketing, was ist das neue?

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